Barthes: without addresses
without addresses


Textexcept from "Empire of Signs", chapter: "without addresses".

[only in German available]

Textauszug von Roland Barthes` "Das Reich der Zeichen", edition suhrkamp, Frankfurt a.M. 1981, Kapitel "Ohne Adressen", S. 51-55

"Die Strassen dieser Stadt haben keine Namen.
Wohl gibt es eine geschriebene Adresse, aber die hat ausschliesslich postalische Bedeutung; sie bezieht sich auf ein Kataster (nach Vierteln und Blocks ohne jede Geometrie), das der Postbote kennt, nicht aber der Besucher:
Die groesste Stadt der Welt besitzt praktisch keine Klassifizierung; die Raeume aus denen sie besteht, sind namenlos. Diese Unschaerfe in der Bestimmung der Wohnung erscheint solchen (wie uns) als unbequem, die sich an die Festlegung gewoehnt haben, das Praktische sei stets das Rationalste (ein Prinzip, wonach die beste staedtische Toponymie die der nummerierten Strassen waere, wie es in den Vereinigten Staaten oder in Kyoto, einer chinesischen Stadt, gibt).
Tokyo erinnert uns indessen daran, dass das Rationale lediglich ein System unter vielen ist. Damit Wirklichkeit beherrschbar wird (in unserem Falle die der Adressen), genuegt es, wenn ueberhaupt ein System existiert, und waere dieses System auch scheinbar unlogisch, uebermaessig kompliziert oder merkwuerdig disparat:
eine gelungene Improvisation kann nicht nur, wie man weiss, aeusserst haltbar sein, sie kann auch die Beduerfnisse vieler Millionen Einwohner befriedigen, die im uebrigen alle Perfektion der technischen Zivilisation gewohnt sind.
Die Namenlosigkeit wird durch eine Reihe von Hilfsmitteln (so jedenfalls erscheinen sie uns) ausgeglichen, deren Kombination ein System ergibt. Man kann die Adresse durch eine (gezeichnete oder gedruckte) Orientierungsskizze darstellen, eine Art geographischen Verzeichnisses, das die Wohnung ausgehend von einem bekannten Anhaltspunkt, einem Bahnhof etwa, lokalisiert (die Einwohner brillieren in der Verfertigung solcher improvisierten Zeichnungen, die, auf einem Stueckchen Papier skizziert, eine Strasse, ein Gebaeude, einen Adressentausch zu einer koestlichen Kommunikation machen, in der ein Koerperleben, eine Kunst der graphischen Geste wiedererstehen:
Es ist immer ein Vergnuegen, jemand beim Schreiben zuzusehen, erst recht aber beim Zeichnen: Von all den Gelegenheiten, da jemand mir auf diese Weise eine Adresse mitteilte, bewahre ich die Geste meines Gespraechspartners im Gedaechtnis, mit der dieser den Bleistift umdrehte und mit dem am oberen Ende angebrachten Radiergummi vorsichtig die uebertriebene Biegung einer Strasse oder das Verbindungsstueck einer Bruecke ausradierte; obwohl der Radiergummi der graphischen Tradition Japans widerspricht, strahlte diese Geste doch etwas Friedliches, Liebkosendes und Sicheres aus, ganz so, als folgte selbst diese nebensaechliche Handlung der Regel des Schauspielers Zeami, wonach der Koerper mit groesserer Zurueckhaltung arbeitet als der Geist".

In all dem ging es weit mehr um den Akt der Mitteilung als um die Adresse selbst, und in meiner Faszination haette ich gewuenscht, es moechte doch Stunden dauern, mir diese Adresse zu geben. Man kann auch, sofern man den Ort, an dem man will, bereits kennt, den Taxifahrer selbst durch die Strassen lotsen. Und schliesslich kann man den Fahrer auch bitten, sich selbst von dem fernen Besucher, zu dem man gelangen will, ueber eines der grossen roten Telephone dirigieren zu lassen, die an fast allen Strassenauslagen installiert sind.
All dies macht die visuelle Erfahrung zu einem entscheidenden Element der Orientierung: eine banale Feststellung, wo es sich um den Dschungel oder den Busch handelt; sie wirkt jedoch weit weniger banal, wenn es um eine sehr grosse moderne Stadt geht, deren Kenntnis gewoehnlich durch Stadtplaene, Fuehrer, Telefonbuecher, mit einem Wort: durch die gedruckte Kultur und nicht durch eine gestische Praxis sichergestellt wird.
Hier dagegen stuetzt keine Abstraktion die Lokalisierung der Wohnung; jenseits des Katasters ist sie nicht als pure Kontingenz: eher faktischer denn rechtlicher Natur, bestaetigt sie nicht laenger die Verbindung einer Identitaet mit einem Besitz.
Diese Stadt kann man nur durch eine Taetigkeit ethnographischen Typs kennenlernen: man muss sich in ihr nicht durch das Buch, durch die Adresse orientieren, sondern durch Gehen und Sehen, durch Gewoehnung und Erfahrung. Jede Entdeckung ist hier intensiv und fragil. Wiederfinden laesst sie sich allein durch die Erinnerung an die Spur, die sie in uns hinterlassen hat:

Einen Ort zum erstenmal besuchen heisst dann: beginnen, ihn zu schreiben: Da die Adresse ungeschrieben ist, muss sie sich eine eigene Schrift schaffen."

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